Gedankenanstösse

EINER VON 150‘000

«Der ist für nichts zu gebrauchen». Jedes Mal, wenn mir der junge Mann begegnet, geht mir dieser Satz durch den Kopf. Es war die Feststellung seiner Mutter, als sie zusammen mit einem Vertreter der zuständigen Sozialbehörde und ihrem Sohn zu einem Vorstellungsgespräch in unsere Institution kam. Die Behörden suchten für den jungen Mann einen sozialpädagogisch begleiteten Wohnplatz und gleichzeitig eine unterstützte Berufsausbildung.

Inzwischen hat er längst bewiesen, dass die damalige Äusserung seiner Mutter mehr als überholt ist. Er hat seinen Weg unter die Füsse genommen und ist auch beruflich gut unterwegs. Es war für ihn nicht leicht, sich für einen Ausbildungsweg zu entscheiden. Aber er hatte trotz eher schwierigen Prognosen den Mut, seinen Berufsweg anzutreten und zu bestreiten. Sein Wille gab ihm recht.

Jedes Jahr stehen in unserem Land rund 150‘000 Schulabgänger vor der schwierigen Aufgabe, die Berufswahl in Angriff zu nehmen. Die Konkurrenz um begehrte Lehrplätze kann verunsichern. Erst recht, wenn es Jugendliche trifft, bei denen es um die persönlichen oder sozialen Voraussetzungen für den Berufsstart nicht all zu gut bestellt ist. Herauszufinden, was man will, scheint schon schwer genug. Viele brauchen dazu Starthilfe, dies erst recht, wenn die persönlichen Ressourcen begrenzt scheinen.

Inzwischen sind es in der Schweiz jährlich gegen 25% der Schulabgänger, bei welchen der direkte Einstieg in die Berufsausbildung nicht gelingt und ein Brückenangebot oder andere Zwischenlösungen in Anspruch genommen werden. Eine steigende Anzahl unter ihnen jedoch landet irgendwo im erwerbslosen Leerlauf. Dies ist mehr als tragisch. Denn noch immer gilt: «Eine verpasste Berufsausbildung verfolgt einen durch das ganze Leben!»

Kognitive Grenzen, disziplinarische Probleme, Entwicklungsverzögerungen, mangelnde Motivation oder psychische Belastungen sind von manchen unter ihnen im Alleingang nicht zu bewältigen. Um in der Gesellschaft nicht unterzugehen, brauchen die betroffenen Jugendlichen institutionelle Unterstützung. 

Unsere Programme zur beruflichen Integration sind darauf ausgerichtet, zusammen mit den einweisenden Instanzen dafür zu sorgen, dass Jugendliche mit erschwerten Startbedingungen beim Einstieg in die Erwerbsfähigkeit nicht scheitern. Damit wird verhindert, dass sie langfristig auf materielle Unterstützung durch die Gesellschaft angewiesen sind.

EIN UNGLEICHGEWICHT SOLL SEINE BALANCE FINDEN

«Unsere Berufsbildung ist Weltklasse!» hält Robert Rudolph, Leiter Bildung bei Swissmem, nach der für die Schweiz wiederum erfolgreichen Berufs-WM fest. Die jungen Schweizer Berufsfachleute erreichten 2017 in China den stolzen 2. Rang in der Nationenwertung. Zudem brachten sie die bisherige Rekordzahl von total 20 Medaillen mit nach Hause. Bravo!
Robert Rudolph freut sich nicht nur, er legt noch einen drauf: «Das Ziel ist klar: Den Schritt junger Talente aufs WM-Podest soll die Schweiz auch künftig feiern können.» Klar freuen wir uns ebenfalls auf künftige Erfolge einer Handvoll Supertalente.

Lassen wir die Sterne am Berufsbildungshimmel neidlos leuchten. Aber vergessen wir nicht die dringende sozialpolitische Aufgabe, uns um die steigende Zahl Jugendlicher zu kümmern, welche bezüglich ihres Einstiegs in den Arbeitsmarkt im Schatten stehen. Sie werden nicht gefeiert, stehen nicht im Scheinwerferlicht. Nach ihnen fragt die Wirtschaft nur noch bedingt. Sie garantieren im Prozess der Berufsbildung keine schnellen Erfolge und Returns. Zeichnet sich bei der Selektion gar ein Verdacht auf Unterstützungsbedarf ab, wächst erst recht die Zurückhaltung und es schwindet die Chance auf eine Lehrstelle.

Die in unserer Institution steigende Nachfrage an Ausbildungsplätzen zeigt, dass sowohl politische Verantwortungsträger als auch Behörden dieser Situation vermehrt Rechnung tragen. Sie arbeiten verstärkt darauf hin, dass die wachsende Zahl eigener oder zugewanderter junger Menschen trotz Unterstützungsbedarf in die Berufswelt einsteigen kann.

Gemeinsam mit den zuweisenden Stellen sorgen wir dafür, dass sie durch eine ihren Resourcen angepasste Ausbildung die Arbeitsmarkt- und Erwerbsfähigkeit erreichen.

AUF DAS FALSCHE PFERD GESETZT

Da lese ich doch in einer Firmen-Zeitung die Sätze: «Unser Ziel ist es, Tag für Tag Spitzenleistungen zu erbringen. Für unsere Kunden ist nur das mit Abstand Beste gut genug.» Als Kunde mag mir diese Aussage schmeicheln. Als sozial denkende Person, die selber für 165 Mitarbeitende verantwortlich ist, weiss ich aber, dass zu jeder Firma auch Menschen gehören. Als Leiter einer Institution, welche sich für die berufliche und soziale Integration von durchschnittlich 250 Menschen mit Handicap einsetzt, wird es mir allmählich schon eng. Und beim Gedanken, dass ich mich bereits drei Viertel meines aktiven Berufslebens dafür eingesetzt habe, dass auch benachteiligte Menschen ihren würdevollen Platz in unserer Gesellschaft und Arbeitswelt einnehmen können, läuft es mir definitiv kalt den Rücken herunter. Sollte stimmen, dass nur noch «Spitzenleistungen» und das «mit Abstand Beste» dem Massstab unserer Arbeitswelt genügen können, dann habe ich – sorry – beruflich wohl auf das falsche Pferd gesetzt.

Gestatten Sie mir die Fragen: Wollen und brauchen wir als Gesellschaft wirklich laufend das mittels Spitzenleistungen erbrachte «Beste»? Realisieren wir immer noch zu wenig, wie viele unter uns dabei mitten auf der Strecke völlig ausgepowert aufgeben müssen? Und was ist mit all jenen, welche auf dem geforderten Niveau den Einstieg gar nicht mehr schaffen? Wäre es nicht auch ein akzeptabler Vorschlag, anstatt dauernd nach dem und den «Besten» zu greifen, sich mit dem überreichlich vorhandenen «Guten» zufrieden zu geben?

Natürlich bin ich dafür, dass alle, welche in der Arbeitswelt tätig sind, dort ihr Bestes geben. Dabei geht es aber nicht darum, bei der elitären Spitze mithalten zu können, sondern vielmehr um die Grundmotivation, trotz eigenen Grenzen sein persönlich Bestes zu geben. Dies ist genug und sollte in der Berufswelt immer noch Anklang und Respekt finden, auch für durchschnittliche oder gar schwächere Mitarbeitende. Wir brauchen Unternehmen, welche in den Kreis ihrer Mitarbeitenden auch Menschen aufnehmen, welche nicht nur mit Spitzenleistungen zu glänzen vermögen. Sozial ausgerichtete Unternehmen wissen, dass ein wertschätzendes und sich ergänzendes Zusammenspiel von unterschiedlichen Begabungen und Leistungsfähigkeiten ein erstaunlich gutes und absolut marktfähiges Ergebnis hervorbringen kann.

THEORETIKER ODER BÜEZER  

Wer macht in Zukunft das Rennen? Der Beobachter widmete eine ganze Ausgabe dem Thema Berufsbildung versus Studienlaufbahn. «Um jeden Preis ins Gymi – Lehrlingsmangel: Die Suche nach dem Stift.» Offensichtlich polarisiert sich die berufliche Zukunftsplanung der Jugendlichen in unserem Land immer mehr. Der Trend lässt sich zusammenfassen im Slogan: «Überfüllte Gymnasien – ausgedünnte Berufsschulen!» Was ist los? Ist die praktische Berufsbildung im Vergleich zur theoretischen Bildung ins Hintertreffen geraten? Hat der Bildungstrend den Berufsstolz überholt? Sind Büros in Zukunft tatsächlich die attraktiveren Arbeitsplätze als Baustellen und Produktionsbetriebe? Mag sein, dass man heute noch so denkt. Bloss scheint man zu vergessen, dass mittelfristig auch hier der Markt bestimmt, wer zu welchem Preis gefragt ist. Theoretische oder praktische Berufsbildung, welche wird das Rennen gewinnen? Die Trends zeichnen sich bereits ab. Mittelfristig ist der Büezer im Vorteil, denn der Nachfrageüberhang öffnet ihm die Türen zu den zunehmend freien Stellen und lässt für ihn das Lohnniveau ansteigen. Denn nichts Reales entsteht allein in der Theorie. Es braucht auch in Zukunft diejenigen, welche ein Haus oder Maschinen wirklich und handfest entstehen lassen. Theoretiker werden Mühe haben, Schritt zu halten mit denen, welche ein Handwerk wirklich gelernt haben und fähig sind, reale Wertschöpfung zu erzielen. Wenn die Theorie nicht zur Praxis wird, baut sich der Hunger auf. Die praktische Berufsausbildung lässt Stellenbewerber zukünftig mit Sicherheit wesentlich besser aussehen als die rein schulische. 

Zugegeben, Ausbildungsbetriebe müssen sich den Nachwuchs etwas kosten lassen. Den Aufwand der theoretischen Bildungslandschaft übernimmt das Gemeinwesen. Die zurzeit produzierte Inflation an Theoretikern kostet uns nicht nur heute, sondern vielmehr auch zukünftig eine Menge Geld. Die praktischen Berufsausbildungen tragen immer noch weitgehend die Verbände und die Betriebe selbst. Klug ist, wer es trotzdem tut. Berufspraktiker zu generieren, ist eine lohnende wirtschaftliche Überlebensstrategie. Nicht die Suche nach den theoretisch Besten prägt zukünftig die Kunst der Rekrutierung von Arbeitskräften. 

Das Potential der produzierenden realen Wirtschaft wird darin liegen, eine rar werdende Gruppe, die praktisch begabten Fachleute, zu finden!

ERFOLGSFAKTOREN IN DER BERUFSBILDUNG

Einer gelungenen beruflichen Ausbildung inklusive Platzierung im ersten Arbeitsmarkt gehen bei Menschen mit Unterstützungsbedarf in der Regel vielfältige Bemühungen voraus. Ebenso umfangreich ist meist auch der Kreis der in diesen Prozess involvierten Personen und Instanzen.

Berufsförderung heisst für uns immer auch intensive Beziehungsarbeit. Sie entscheidet nicht zuletzt über das Gelingen einer Berufsintegration.

Eingebunden in dieses partnerschaftliche und lösungsorientierte Zusammenwirken sind in erster Linie die betroffene Person selbst und, soweit aktiv vorhanden, auch ihr Herkunfts- und Beziehungssystem. Dann sind von Beginn an auch zuweisende Stellen wie andere Institutionen, Jugendheime, Sonder- und Heilpädagogische Schulen, Kliniken, Sozialdienste und die Invalidenversicherung etc. aktiv. Sie verknüpfen die Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten mit den Angeboten von uns als aufnehmende Institution. Gemeinsam geklärt werden die gewünschten und passenden Komponenten wie Wohnen, Freizeit, Berufsfelder und Ausbildungsplatz. Vor einem Eintritt werden gemeinsam die anstehenden Formalitäten bewältigt.

Am neuen Wohn- und Ausbildungsplatz stehen dann die Bezugsarbeit der pädagogischen Fachkräfte und bei der Arbeit die Ausbildenden mit ihren beruflichen Qualifikationen zur Verfügung. Dazu gehört auch die Pflege der Kontakte zu begleitenden fachärztlichen Personen oder Therapeuten als auch zu den Berufsschulen und Fachverbänden.

Im Hintergrund arbeitet der psychologische Dienst im Bereich der Diagnostik, vorwiegend mittels Testverfahren. Die Lehrkräfte in der internen Schule gestalten den Unterricht, in der Lernwerkstatt vertiefen die Berufsbildner mit den Lernenden den Unterrichtsstoff aus der Berufsschule. Die gesamte Administration erledigen die zentralen Dienste der Institution.

WIR BRINGEN’S AUF DEN PUNKT

Eine Berufsintegration durch IV-verfügte Massnahmen muss wirksam sein. Ihr Ziel geht deshalb vorrangig dahin, bei versicherten Personen die arbeitsmarktfähigen Ressourcen zu optimieren. Diese Richtung stimmt. Nur, der Mensch ist nicht bloss Arbeitspotential. Zur Entwicklung eines Menschen, welcher in seinem aktiven Leben die Lebenshaltungskosten soweit wie möglich selber erwirtschaften kann, gehört auch die Entfaltung seiner gesamten Persönlichkeit. Die SEEBURG arbeitet auf der Grundlage eines möglichst ganzheitlichen Menschenbildes, d.h. sie versucht, die ihr anvertraute Klientel im Hinblick auf die vier Kompetenzbereiche Wohnen, Arbeit, Freizeit und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit individuell zu fördern. Diese Bereiche bilden erfahrungsgemäss die entscheidenden Faktoren für eine erfolgreiche Integration in unsere aktuelle Gesellschaft mit ihren vielschichtigen Herausforderungen. 

In einer ersten Phase des Aufenthaltes im Internatsmodus wird bei uns gezielt versucht, den Entwicklungsstand der Klientinnen und Klienten bezüglich der vier Kompetenzachsen mittels strukturierten Beobachtungen, Gesprächen und Selbsteinschätzungen möglichst gut zu erfassen. Zum nächsten Schritt gehört eine Einschätzung des voraussichtlichen Entwicklungspotentials anhand erhobener Daten in allen vier Kompetenzbereichen. Die Differenz zwischen dem eruierten Entwicklungsstand und den prognostizierten Entfaltungsgrössen definiert auf jeder Achse die Ziele und damit unsere praktischen Förderaufgaben. Diese werden in der Zusammenarbeit mit den Klientinnen und Klienten anhand eines individuellen Förderprogrammes mit kurz-, mittel- und langfristigen Zielen festgelegt. In regelmässigen Standortkonferenzen werden die Resultate ausgewertet und neue Teilziele formuliert. Der Entwicklungsverlauf im Rehabilitationsprogramm wird dokumentiert. Wegweisend in unseren Bemühungen bleibt stets ein ressourcenorientiertes Arbeiten. Langfristig wird für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Rehabilitationsprogrammes eine Platzierung in einem Umfeld angestrebt, welches auf jeder der vier Kompetenzachsen den Fähigkeiten und der Persönlichkeit der Austretenden optimal entspricht. Dabei spielt das Erreichen einer höchstmöglichen Eigenständigkeit und Selbstverantwortung eine wichtige Rolle, um die gegebenen Lebensumstände zukünftig allein oder mit möglichst wenig Unterstützung von aussen optimal zu gestalten.

TALENTE UND ROBOTER

Ich bringe diese Statements einfach nicht mehr aus meinem Kopf! Es war spät abends im SRF, eine Talkrunde anlässlich des WEF 2016 in Davos. Hochkarätige Vertreter von Weltkonzernen tauschten sich über die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren aus. Höchst spannende Thesen, die faszinieren! 

Dennoch, die Aussagen blieben bei mir hängen und bohrten sich immer tiefer in meine Gedankenwelt ein. Allmählich tat sich ein tiefer Graben auf zwischen den Prognosen der globalen Wirtschaftskapitäne und meiner alltäglichen Realität. Wie das? Schauen wir mal auf die Prognosen der Wirtschaftswelt. Sie gehen zusammengefasst in folgende Richtung:

«Die digitale Revolution ist in vollem Gange. Sie wird nicht erst in ein paar Jahren beginnen. Umwälzende Veränderungen finden bereits jetzt statt. Die Wirtschaft sollte sich schnellstmöglich darauf einstellen. Firmen müssen Ausschau halten nach Top-Talenten. In der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) werden in den kommenden Jahren Hunderttausende neue Arbeitsplätze entstehen. Man geht davon aus, dass bis zum Jahr 2020 in Europa bereits über 750‘000 Talente in der ICT-Branche fehlen.

Auch die Robotertechnik schreitet mit atemberaubender Geschwindigkeit voran. Es muss damit gerechnet werden, dass sowohl in der Produktion als auch in den Dienstleistungen bis in 20 Jahren rund die Hälfte aller Arbeitsplätze durch Roboter ersetzt werden. Diese Entwicklungen voranzutreiben, setzt eine hohe Zahl an jungen IT-Talenten voraus. Es ist dringlich, junge Menschen für eine Karriere in der ICT-Branche zu begeistern und zu gewinnen. Sie werden die digitale Transformation der Produktions-Stätten in die Tat umsetzen. 

Höchst problematisch in vielen Betrieben wird in Zukunft sein, was mit den unzähligen Arbeitnehmern geschehen soll, welche lediglich über geringe und mittelmässige Qualifikationen verfügen und digitales Wissen nicht mehr in produktive Prozesse zu transformieren vermögen.» 

Was wird sein, wenn sich unsere Arbeitswelt tatsächlich in Richtung hochbegabte Talente mit einem Bildschirm vor dem Kopf und Produktionshallen sowie Dienstleistungsbereiche mit Robotern entwickelt? 

Diese Sicht der Zukunft trifft frontal auf die Realität, mit der ich mich im Alltag auseinandersetze. Eine schwer auszuhaltende Diskrepanz macht mich dabei zunehmend unruhig. Was soll dann mit dem Heer an normal- oder schwächer begabten Menschen passieren? Wo bleiben der stolze Facharbeiter und die Dienstleistenden in dieser Zukunftsvision? Dem Arbeitsmarkt ist es schon heute nicht mehr möglich, allen arbeitswilligen Personen unserer Gesellschaft einen Arbeitsplatz anzubieten. Weiter kommt noch die berufliche Förderung und Integration einer steigenden Zahl meist junger Asylsuchender verstärkt auf uns zu. Wie erst soll es herauskommen, wenn sich die Prognosen der Wirtschaftsführer erfüllen? Dann brauchen wir dringend Strukturen, welche es vielen Menschen weiterhin ermöglichen, arbeitstätig zu bleiben. 

«LEHRSTELLEN SIND KEIN KOSTENFAKTOR, SONDERN EINE INVESTITION»  

BERUFSBILDUNGPLUS.CH bringt mit ihrem Slogan das auf den Punkt, was wir vermehrt auch schon thematisiert haben: Der allgemeine Arbeitsmarkt tut sich angesichts des steigenden wirtschaftlichen Drucks zunehmend schwer, die Berufsausbildungen nicht als nötigen Kostenfaktor zu sehen. Und wenn schon ausbilden, dann primär die Bewerberinnen und Bewerber, welche der Firma voraussichtlich in kürzester Zeit einen Return erwirtschaften. Was aber ist mit jenen, die aussen vor bleiben? Jugendliche mit weniger guten Karten finden bei der praktischen Berufsbildung den Einstieg immer häufiger gar nicht mehr. Damit aber generieren wir in hoher Zahl junge Menschen ohne arbeitsmarktfähige Berufskompetenzen. Das Versäumnis, sie bei ihrem Berufsstart zu unterstützen, wird für unsere Gesellschaft fatale finanzielle und soziale Folgen haben. 

Wenn es für durchschnittlich Begabte bereits eine Hürde darstellt, Lehrbetriebe zu finden, was soll dann mit der wachsenden Zahl junger Menschen werden, welche bei ihrer Berufsausbildung einen erhöhten Betreuungsbedarf aufweisen? Für sie fehlt dem ersten Arbeitsmarkt scheinbar erst recht die nötige Zeit zur individuellen Förderung. Wollen wir verhindern, dass aus ihnen langfristig ein sozialpolitischer Kostenfaktor wird, müssen wir die Instrumente bereitstellen, um auch ihnen den Berufseinstieg zu ermöglichen! Eine agogisch begleitete Berufsausbildung junger Menschen ist die beste Investition, um sie in den Arbeitsmarkt und damit in die Erwerbsfähigkeit zu integrieren. Damit bewahren wir sie vor dem Schicksal, auf Langzeit-Sozialhilfe angewiesen zu sein. Fachkräfte wären gesucht, aber vorher müssen sie ausgebildet werden. Es sind nicht nur die kantonalen Kassen der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenversicherungen, welche das Versäumnis einer Integration junger Menschen in die Gesellschaft und in die Erwerbsfähigkeit längerfristig ausbluten lässt. Auch die IV wird gefordert sein, ihren Weg als Eingliederungs-versicherung gerade bei jungen Menschen auf Kurs zu halten. In ihrem Jahresbericht 2014 stellt die IV-Stelle des Kantons Bern fest: «Während die IV-Neurenten in den letzten Jahren rückläufig waren, nahmen die zugesprochenen Renten bei versicherten Personen unter 25 Jahren zu. Diese Entwicklung ist aus volkswirtschaftlicher Sicht, aber auch in Bezug auf die Lebensperspektiven der jungen Menschen problematisch. Als IV-Stelle sind wir gefordert, die Integrations-bemühungen zugunsten dieser Personengruppe zu verstärken und alles daran zu setzen, junge Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten.”

Die Tatsache, dass man sich ausgerechnet bei der in unserem Land und gegenüber dem Ausland bis anhin hochgehaltenen Berufsbildung nicht mehr allein auf die freie Wirtschaft abstützen kann, fordert ein Umdenken. Neue Strukturen, wo sinnvoll auch im sozialen – oder im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt, sind gefordert. Sonst werden wir es verpassen, die immer noch reichlich vorhandenen Ressourcen an Werktätigkeit und Fachqualifikation bei Jugendlichen mit speziellem Förderbedarf zu gewinnen, anstatt sie verkümmern zu lassen. Gemeint sind Sozialfirmen und Institutionen mit Ausbildungsbetrieben, welche über das fachlich und arbeitsagogisch ausgebildete Personal verfügen, um auf die individuellen Förderbedürfnisse von Berufslernenden einzugehen. Klar muss diesen integrativen Betrieben der zusätzliche Betreuungsaufwand, den die Wirtschaft zunehmend nicht mehr zu leisten und zu investieren vermag, finanziell korrekt entschädigt werden. Stellt sich uns hier die Eingangsthese: Kostenfaktor oder Investition? Wer die langfristige Rechnung wagt, kennt sehr schnell die richtige Antwort.

BERUFSBILDUNG VERSUS JUGENDARBEITSLOSIGKEIT

27 Milliarden Euro - Diese gigantische Summe will die EU-Kommission in den nächsten Jahren in die Berufsbildung investieren. Grund dafür: Die Jungendarbeitslosigkeit ist gemäss EU-Bericht eines der dringendsten Probleme in der Europäischen Union. 

Nun will die Kommission durch eine verstärkte Förderung der Berufsbildung entschieden Gegensteuer geben. Die Stärkung der Berufsbildung soll, so die Kommission, «die Beschäftigungsfähigkeit und die persönliche Entwicklung von Auszubildenden stärken und zu einer hervorragend ausgebildeten und qualifizierten Arbeitnehmerschaft gemäss den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes beitragen.»

Was neben der Höhe der Investition weiter erstaunt ist die Tatsache, dass die finanziellen Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, ausgerechnet aus dem EU-Sozialfonds stammen sollen. Dahinter steht klar die Erkenntnis und Logik, dass versäumte Anstrengungen bei der Berufsbildung unsere Gesellschaft längerfristig ein Vielfaches an Sozialgeldern kosten werden. 

Dass nun diese gewaltige Summe von 27 Milliarden Euro durch die öffentliche Hand investiert werden soll zeigt aber auch, dass das Modell der Berufsbildungs-Delegation an die Wirtschaft auf Grund zu hoher Selektionskriterien nicht mehr genügend tragfähig ist. Zu viele potentielle Berufseinsteiger werden bereits nicht mehr in den Förderungsprozess der Firmen aufgenommen. Jugendliche, die zu wenig gute Voraussetzungen ausweisen können, gar noch Unterstützungsbedarf vermuten lassen, bleiben auf der Strecke und haben es zukünftig sehr schwer, mangels genügender Qualifikationen ins Erwerbsleben einzusteigen. Sie bleiben im Netz der Sozialhilfe hängen. Die Gegenmassnahmen dieser Entwicklung will nun die EU-Kommission mit einem monströsen Etat aus dem Sozialfonds anstossen.

In unserem Land stellt sich diese Herausforderung wesentlich moderater dar. Zwar kennen wir das wachsende Phänomen der Selektion auch. Aber bei uns sind in den vergangenen Jahren Systeme entstanden, welche innerhalb der Berufsbildung wirksame Alternativen zur exklusiven Rolle des allgemeinen Arbeitsmarktes darstellen. Soziale Institutionen und ihre Betriebe können heute den unterschiedlichen Bedarfsgruppen wirksame Programme der Beruflichen Integration von Menschen mit Unterstützungsbedarf zur Verfügung stellen. Der Schlüssel zum Erfolg einer nachhaltigen Beruflichen Integration sollte in der Schweiz nicht darin liegen, wie die EU gigantische Summen an Sozialgeldern loszutreten, sondern weiterhin die bestehenden arbeitsagogischen Alternativstrukturen zur privaten Wirtschaft politisch und materiell zu stützen.